Vom rettenden Engel, Engelssturz und Engelland

Spuren der Engel in unserer Sprache zum 29. September

Von jemandem, der im Begriff steht, eine Torheit zu begehen, sagt man: „Das hat dir dein guter Engel eingegeben“, wenn dieser sich im letzten Augenblick eines Besseren besinnt. Die Redensart geht auf die alte christliche Vorstellung von der Aufgabe der Engel zurück, die Menschen zu behüten. Im Alten Testament sagt Tobias von seinem Sohn: „Ich glaube, daß ein guter Engel Gottes ihn geleitet“ (Tob 5, 29). Von Johannes Agricola wird 1529 in seiner „Sprichwörtern“ die Redensart „Du hast eynen gutten Engel gehabt“ erklärt: „Wer nun in eynem vngluck vnd schwinden vnfall gewesen ist, vnd yhm wirt geholffen, da alle menschen verzagten, von dem sagt man, der hat eynen gutten Engel gehabt, der yhm geholffen hat“. Eine ähnliche Deutung findet sich in der „Zimmerischen Chronik“: „Es geschieht etwas wunderbarlich, das die kinder in ihrer jugendt von ihren engeln und hüetern bewart werden“.

Sprache ist das „Gefängnis“ unserer Ideen und Empfindungen. In ihr erhält sich, wenn sie denn niedergeschrieben und so zur Literatur und Schrift geworden ist, Gedankengut, mit dem wir Phänomene beschreiben, die sich von Gegend zu Gegend und von Zeitalter zu Zeitalter wandeln. Das Engelfest am 29. September ist eine Gelegenheit, dies am Beispiel der Engel bewusst zu machen.

Der Verstorbene geht nach christlichem Volksglauben zu den Engeln ein, daher sagt man schwäbisch beim Tod eines Kindes: Es spielt mit den Englein; ist jemand eines sanften Todes gestorben, so hört man: Den haben die Engel in den Schlaf gesungen. Der Redensart „Die lieben Engelchen singen (pfeifen) hören“ liegt die Vorstellung von einem Orchester der Engel zugrunde, das man musizieren hört, wenn sich einem der Himmel auftut. Die „Engelsmusik“, gerne in die Darstellung der Geburt Christi einbezogen, steht in Verbindung mit der antiken Vorstellung von der Sphärenharmonie. Die Engel hören aber nur die selig Verstorbenen singen. So singt der Archipoeta, der Lyriker der Stauferzeit: „Dem Wirtshaus will ich treu bleiben, donec sanctos angelos venientes cernam, cantantes pro mortuis Requiem aeternam“, (bis dereinst die Engel nahn, bis mein Ohr vernommen ihren heil’gen Sterbegruß: „Ew’ge Ruh den Frommen!“). Heute wird diese Redensart nicht mehr im ursprünglich gemeinten Sinn verstanden, sondern drückt bildhaft Schmerzempfindung aus. Wenn „he hett all de Engeln singen hört“ (schleswig-holsteinisch), ist er mit knapper Not dem Tode entronnen.

„Ein Engel geht durchs Zimmer“, „ein Engel fliegt durch die Stube (sitzt auf der Gardinenstange)“ heißt es, wenn in der lebhaften Unterhaltung einer Gesellschaft zufällig und plötzlich eine allgemeine Stille eintritt, so wie beim Erscheinen eines Engels alles betroffen schweigen würde. Diese Redensart ist alt. Sie ist außer in Deutschland auch in der Schweiz, in Frankreich, England, Schweden, Lettland und Estland nachweisbar. Ein Engel durch das Zimmer oder am Hause vorbei; französisch „Un ange vient de passer“, auch „Un ange passe“; englisch „There is an angel (a spirit) passing“. Forscher vermuten, dass die Redensart auf antiken Gottesvorstellung beruht. Sie könnte auf Hermes zurückgeführt werden: Plutarch (46-120 n. Chr.) formuliert, wenn er über die Geschwätzigkeit schreibt: „Entsteht in einer Gesellschaft plötzliche Stille, so sagt man, Hermes sei hereingekommen“. Hermes war der Götterbote, dem die Zungen der Opfertiere verfielen und von dem man glaubte, er habe dem neu geschaffenen Menschen die Zunge gegeben. Wenn er zu einer Opferzeremonie kam, mussten alle völlig schweigen. Andere Forscher nehmen an, das allgemeine Schweigen anlässlich des durch das Zimmer fliegenden Engels gehe auf jüdischen Riten der Passahnacht zurück. Hier wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Gläser mit süßem Rotwein gefüllt. Vom größten Pokal sollte Gottes Engel kosten, der in jener Nacht alle Häuser der Juden besuchte. Man löschte alles Licht, und in Gebet und Stille wartete man, bis der Engel da gewesen war.

Die Redensart hat auch in die klassische Literatur Eingang gefunden. Mörike schreibt in seinem Roman „Maler Nolten“: „Ists nicht ein artig Sprichwort, wenn man bei der eingetretenen Pause eines lange gemütlich fortgesetzten Gespräches zu sagen pflegt: es geht ein Engel durch die Stube!“ K. L. Immermann wendet in seinem Münchhausen-Roman die Redensart ironisch an: „Der Mythus sagt, in solchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer, aber nach der Länge derartiger Pausen zu urteilen, müssen zuweilen auch Engel diese Flugübungen anstellen, deren Gefieder aus der Übung gekommen ist“.

Gerne werden die guten Eigenschaften eines Menschen, die ihn liebenswürdig machen und in denen er das christliche Liebesgebot besonders klar lebt, mit denen der Engel verglichen: Die Geliebte ist „schön wie ein Engel“ oder jemand erscheint „als rettender Engel“. Wenn aber die Rede davon ist, jemand sei „ein gefallener Engel“, ist gemeint, dass er seine Unschuld verloren hat. Diese Rede steht im Zusammenhang mit dem biblischen Buch der Offenbarung (12, 7–9), wo es heißt: „Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten, und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.“ Der „Engelssturz“, auch Himmels- oder Höllensturz ist in phantasievollen Gemälden dargestellt worden.

Die Bezeichnung „blauer Engel“ für ein betrunkenes Mädchen geht auf den Film „Der blaue Engel“ zurück, einen der ersten deutschen Tonfilme, unter dem 1929 Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ verfilmt wurde. „Gelbe Engel“ werden gerne die Pannendienstler des ADAC genannt.

Als „Engelmacher(-in)“ wird die- oder derjenige bezeichnet, der insgeheim Abtreibungen vornimmt. „Engel“ oder „Engelchen“ nannte man die ungetauft verstorbenen Kinder, von denen man annimmt, sie seien auch ursächlich für die zahlreichen Engeldarstellungen in Barock und Rokoko. Von einem, der ein schlechtes Leben führt, sagt man: „Er will den Engeln ersparen, ihn in Abrahams Schoss zu tragen“. „Du bist ein Engel mit `nem B davor“ heißt man einen Bengel. „Mit den Engeln lachen“ meint, ohne Grund oder Gegenstand zu lachen. Französisch wird parallel gebildet: „rire aux anges“, aber hier wird kein unmotiviertes, sondern ein unschuldig-kindliches Lachen benannt. „Sein Engel ist ein Bettler“ sagt man von jemand, der nur in Betteleien Glück hat; entsprechend heißt es: „Sein Engel ist kein Bettler“, wenn er vom Glück begünstigt wird. Der Spruch „Wenn Engel reisen…, lacht (weint) der Himmel (Freudentränen)“.bezieht sich auf gutes und auf schlechtes Reisewetter. Die Redensart hat meist nur den Zweck, bei An- oder Abreise die Situation aufzulockern. Der Spruch ist so bekannt, dass oft der Nachsatz gar nicht mehr ausgesprochen wird, weil die Andeutung allein schon genügt, um Verständnis zu wecken. Eine „Engelsgeduld“ zeigt ein besonders seltenes Maß Geduld. Vom „Engelland“ ist die Rede, wenn auf das Elfenland, Traumland oder Feenland verwiesen werden soll. Der Begriff begegnet nicht nur im älteren deutschen Lied und in der älteren Literatur; die moderne Phantasie-Literatur hat ihn auch wieder entdeckt.