Vom Sinn unsinniger Zeit oder: Warum die Narren immer einen Heidenspektabel veranstalten müssen

Wie ein Introitus zu närrischen Freuden wird in Köln und in anderen Fastnachtslanden das Lied „Kumm, loss mer fiere“ gesungen. Ihm entspricht als Schlusslied, in dem melodramatisch der Anfang vom Ende besungen wird, das Lied: „Am Aschermittwoch is' alles vorbei“. Das Wissen um die Begrenztheit und die Endlichkeit der Narretei ist zwar Altbestand karnevalistischen Wissens. Jede, vor allem jede kurze Session lässt jedoch die Narren aufstöhnen: Wenn die „Zick“ so kurz ist, dass man nicht einmal mehr eine Chance zu einem Besuch des Dreigestirns bekommt, warum kann man dann nicht einfach die Session verlängern? Eine närrische Frage? Klar! Und ernst gemeint dazu!

Die Karnevalszeit hat traditionell feste Bezugspunkte. Die Eröffnung der Session zum närrischen Termin am 11.11. um 11.11 Uhr ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Der Tag gibt einen ersten Ausblick: Prinzenpaar oder Dreigestirn sowie das Motto werden vorgestellt. Der Tag ist ein karnevalistischer Appetizer – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wenn der 11.11. manchem Narren als „uralte“ Tradition erscheint, lässt das nicht unbedingt auf  den Grad seiner Narrheit schließen: Die 11 ist seit dem Mittelalter eine Zahl, die symbolisch die Narretei anzeigt, denn sie überschreitet die vorgegebene Ordnung des Dezimalsystems. Wer das elfte Gebot hinter den von Gott gegebenen zehn erfindet, kann nur närrisch sein!

Der eigentliche Karneval im Rheinland, und zwar hier zuerst der Sitzungskarneval und anderswo die Maskenbälle beginnen mit dem Dreikönigstag, dem 6. Januar. Dieser Termin knüpft an das alte Bohnenfest an, das durch den Königskuchen am Dreikönigsabend (5. Januar) ausgelöst wurde. Wer die Bohne im Kuchen fand, wurde Bohnenkönig und musste ein Maskenfest ausrichten. Übrigens war dies – wie fast alle christlichen Feste – ein „soziales“ Fest, weil die feiernden Herrschaften auch der Dienerschaft ein Bohnefest ausrichteten; dieses Fest hieß „schwarzer Bohnenkönig“. Das Bohnenfest war im Jahreslauf die erste karnevalistische Feier, der seit der Wiederbelebung des Karnevals in der Romantik des 19. Jahrhunderts nun die weiteren Feste folgten.

Fastnacht, Fasching oder Karneval sind seit dem 12. Jahrhundert auf die Zeit zwischen Dreikönige und Aschermittwoch eingegrenzt. Warum? Weil Fastnacht – also die Nacht vor dem Fastenbeginn – ein Schwellenfest ist und am Vorabend des Fastenaufktakts am Aschermittwoch entstand und sich dann ausweitete: Die „drei tollen Tage“, die wir noch in alten Fastnachtsliedern besingen, sind ursprünglich der Donnerstag vor dem Karnevalsonntag, der Sonntag und der Dienstag, denn an einem Freitag, dem Todestag Jesu Fastnacht zu feiern, ziemte sich nicht. Als sich nach 1823 der „Rosenmontag“ mit dem Straßenkarneval und dem Rosenmontagszug durchsetzten, lief dieser Tag dem „Veilchendienstag“ den Rang ab.

Der Termin des Aschermittwochs ist kein fester Tag, sondern ein „beweglicher“, variabler Termin. Er errechnet sich von Ostern her. Nach jüdischer Tradition wird am 14. Nisan (die quarta decima) Passah gefeiert, weshalb für die Urchristen dies der Tag des Osterfestes war, ohne Rücksicht darauf, ob der Tag auf einen Sonntag fiel. Im Westen dagegen bildete sich der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond als Ostertermin heraus, der schließlich durch das Konzil von Niccäa 325 festgeschrieben wurde. Das Osterfest kann demnach auf einen Termin zwischen dem 22. März und 25. April (Ostergrenze) fallen.

Im christlichen Festkalender geht die österliche Fastenzeit (Quadragesima) dem Osterfest voran. Ostern ist deshalb auch ein beweglicher Festtermin. In Folge ist die Fastenzeit auch „beweglich“. In Bezug auf das Fasten Jesu in der Wüste (Mt 4, 2) legte die Kirche die Länge der Fastenzeit auf vierzig Tage und Nächte fest. Die in vierzig Einheiten zu teilende Zeitspanne bezeichnet die erdzugewandte Vielfalt und kommt in der Bibel mehrfach vor: vierzig Jahre wandern die Israeliten durch die Wüste (Ex 16,35), vierzig Tage begegnet Moses Gott auf dem Sinai (Ex 24,18), vierzig Tage wandert Elias zum Berg Horeb (1 Kön 19,8), vierzig Tage fastet Jesus in der Wüste (Mt 4,2; Lk 4,2) und vierzig Tage nach der Auferstehung (= Ostern) feiert die Kirche Christi Himmelfahrt (Apg 1,3).

Der Beginn der Fastenzeit liegt auf einem Mittwoch und das Ende der Fastnachtszeit auf dem Dienstag nach dem 6. Sonntag vor Ostern (Invocabit). Als die Synode von Benevent 1091 die Sonntage in der Fastenzeit als Gedächtnistage der Auferstehung Jesu vom Fasten ausnahm, rückte der Beginn der Fastenzeit um 6 (Wochen-) Tage vor. Die Fastnacht endet seitdem am Dienstag nach dem 7. Sonntag vor Ostern (Estomihi) und die Fastenzeit beginnt mit dem folgenden Mittwoch, dem Aschermittwoch. Jene, die ihre Fastnacht nach der alten Fastenordnung vor der Regelung in Benevent (1091) feiern, begehen die Alte Fastnacht (auch: Bauernfastnacht), die immer in die geltende Fastenzeit fällt. Zum Unterschied dazu wurde die neue Fastenordnung Herrenfastnacht genannt.

Seit den Zeiten des Papstes Gregor des Großen (590–604) bis zur Liturgiereform in Deutschland (1970) nach dem II. Vatikanischen Konzil (1962-1965) gab es für den Karnevalssonntag, Quinquagesima, eine gleich bleibende Perikopenordnung: Die Lesung trug das Hohelied der Liebe vor (1 Kor 13, 1–13), in der das Fehlen von Gottes- und Nächstenliebe als närrisch gedeutet wurde, und das Evangelium den Weg Jesu über Jericho nach Jerusalem (Luk 18, 31–43). Der Text der Epistel stand in einem großen Zusammenhang: Im biblischen Sinn ist der ein Narr, der Gott leugnet und dem darum der Mensch das Maß aller Dinge ist (Ps 53, 2; Mt 5, 22), der alles auf das Hier und das Jetzt setzt (Lk 12, 12), der seine einzige Hoffnung auf irdische Güter richtet (Ps 49, 11), der sich Dinge rühmt, die er nicht oder zu Unrecht erworben hat und dann damit prahlt (Jer 17, 11; 2 Kor 11, 17, 21 u. 12, 16). Was gemeint ist, „übersetzt“ der Epheserbrief (4, 17b–24) in das Bild vom alten und dem neuen Menschen: „Lebt nicht mehr wie die Heiden in ihrem nichtigen Denken! Ihr Sinn ist verfinstert. Sie sind dem Leben, das Gott schenkt, entfremdet durch die Unwissenheit, in der sie befangen sind, und durch die Verhärtung ihres Herzens. Haltlos wie sie sind, geben sie sich der Ausschweifung hin, um voll Gier jede Art von Gemeinheit zu begehen. Das aber entspricht nicht dem, was ihr von Christus gelernt habt. Ihr habt doch von ihm gehört und seid unterrichtet worden in der Wahrheit, die Jesus ist. Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, er nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ Der „alte Mensch“ ist ein Narr, der in der Sünde verharrt, der „neue Mensch“ ist der Christ, der Jesus Christus und seinen Regeln nachfolgt.

Während die Fastenzeit eine Übung und ein Weg zum neuen Menschen ist, in dieser Zeit am Erstarken des „Reiches Gottes“ gearbeitet wird, bietet die Fastnacht Gelegenheit, spielerisch, auf Zeit und – natürlich nur zum Abgewöhnen – den „alten Menschen“, den Narren, nachzuspielen. Die pädagogische Spielregel lautet: Erfahre an dir selbst, wie falsch närrisches Verhalten ist, kehre um, alter Mensch, und werde zu einem neuen Menschen, einem Christusnachfolger! Während der Narr in und für diese Welt lebt, soll der Christ zwar in der Welt, aber nicht für diese Welt leben.

Auch die Fastnacht empfing ein Schlüsselelement aus der Liturgie. Nach dem Episteltext (1 Kor 13, 1): „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ galt der Narr als einer ohne (Gottes- und Nächsten-) Liebe, dem kein Sein und kein Haben über dieses Defizit hinweghelfen kann. Wer ohne Nächstenliebe ist, der ist und bleibt ein Narr. Folgenreicher war das mit dieser Narrendefinition verbundene Bild vom „dröhnendes Erz“ und der „lärmenden Pauke“. Seit dem Mittelalter definiert sich der Narr und Gottesleugner in seiner Erscheinung mit Schelle und Pauke: viel Lärm um nichts. Die Schelle wurde zum Erkennungszeichen des Narren. Abraham a Santa Clara (1644–1709), der bildhaft-wortgewaltige Barockprediger, definierte die Narren als Kinder dieser Welt, die „vorn und hinten mit Schellen“ geziert sind. Ihnen ist die Gottesliebe verloren gegangen und deshalb machen sie mit Schellengeläut das Böse wichtig. Es gehört geradezu zum Wesen des Bösen, dass es laut auftritt und auf sich aufmerksam macht; der „Heidenspektakel“ ist noch immer sprichwörtlich. Das Gute dagegen lässt sich eher im Verborgenen finden und muss deshalb gesucht werden (vgl. das Bild vom Reich Gottes als verborgener „Schatz im Acker“, Mt 13, 44).

Weder die Franzosen noch die Preußen konnten im Rheinland die Fastnacht erfolgreich unterdrücken. Im Gegenteil: sie wurden einfach einbezogen. Wenn der „preußische“ Schutzmann den rheinischen Karnevalszügen die Schelle schwingend voran zieht, mag das den Preußen wie die Akzeptanz der Ordnungsmacht erschienen sein. Der närrischen Ikonographie nach machte sich der Schutzmann durch die Schelle zum Narren!

Anhand des Epistel- und des Evangelientextes des Karnevalssonntags stellten die Prediger über Jahrhunderte hinweg zwei Modelle gegenüber: Die Cupido-Gemeinschaft der Ungläubigen, symbolisiert durch die Schellenträger (nach der Epistel des Karnevalsonntags ist die klingende Schelle das Zeichen der Lüsternheit = lat. cupido), die die societas mala, die böse Gesellschaft, darstellen, und die Caritas-Gemeinschaft der Gläubigen, Unmaskierte, symbolisiert durch das Fehlen von Masken, die die societas bona sind. Während sich die societas mala auf dem Weg des Abstiegs nach Babylon, dem Reich des Bösen, befindet, steigt die societas bona auf in das himmlische Jerusalem. Das babylonisch Reich der Schellenträger in der societas mala realisierte sich aktuell natürlich in der Fastnacht, die Herrschaft des himmlischen Jerusalems, in der die Unmaskierten die societas bona bildeten, in der Fastenzeit.

In diese Ausdeutung eingeflossen war unverkennbar die Zweistaatenlehre des heiligen Augustinus (354–430), bei der dualistisch die civitas diaboli, das Reich des Teufels, der civitas dei, dem Reich Gottes, erfüllt im himmlischen Jerusalem (Hierusalem caeleste), gegenüberstehen. Charakterisiert wird der Herrschaftsbereich des Teufels durch Lärm, Narrheit, Streit und Diesseitsorientierung, das Reich Gottes dagegen durch Ruhe, Frieden, Gottesliebe und Jenseitsorientierung. Zumindest für das Reich des Bösen gab es historisch reale Beispiele: das (alte) Babylon und das (neue) Babylon, das heidnische Rom.

Herr der civitas diaboli war natürlich der Teufel. In seinen Herrschaftsbereich begab sich der Mensch als Narr, der immer zugleich auch Gottesleugner war. Als Narrheit begriff das Mittelalter beim vernünftigen Mensch die Unfähigkeit, seine natürlichen Triebe zu beherrschen. Als Folge der Erbsünde galt die besondere Anfälligkeit des Menschen für Reize, die den Hochmut und das Verlangen nach Sinnenlust ansprechen. Seit Gregor dem Großen (1572–1585) unterschied man sieben Ausformungen des erbsündlichen Hochmutes: Hoffart, Neid, Zorn, Geiz, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und religiös-sittliche Trägheit.

Manchmal kann es sich so darstellen, als würde heutzutage die Fastnacht vom ökonomischen Bedarf der Fastnachtvermarkter bestimmt. Fastnacht ist aber keine beliebige Verfügungsmasse – das fühlen viele Narren tief in ihrem Herzen. Denn der Sinn der Fastnacht erschließt sich nur von der Fastenzeit her. Und deshalb dürfte eigentlich nur der Fastnacht feiern, der auch anschließend fastet. Ein seltsamer närrischer Narr, der in der Fastenzeit noch närrisch sein will!